Einer isst nicht wie der andere
Langjährige Erfahrung in der Ernährungsberatung kommt dem Phänomen, warum Menschen essen, was sie essen, in vielen Einzelfällen, die allerdings erst einmal keine statistische Aussagekraft haben, ein wenig näher.
Da kommt eine Mutter mit ihrer fünfjährigen Tochter in die Ernährungsberatung, getrieben von der Sorge, ihr quicklebendiges Kind sei zu dick, weil das Gewicht leicht über der Norm liegt. Der Hausarzt hat ihr dringend geraten, etwas zu unternehmen, denn schließlich würden Untersuchungen zeigen, dass immer mehr Kinder an Übergewicht leiden und dringender Handlungsbedarf bestehe. Das Mädchen hat Freude am Essen, tobt gern und viel draußen im Freien, hat auch jede Möglichkeit dazu. Mutter und Kind sind verunsichert. Eigentlich ist das Kind „pumperlgesund“. Ihm schmeckt das Essen eben gut, egal ob Äpfel, Pflaumenkuchen oder Bratwurst mit Kartoffelsalat. Am liebsten isst es Spaghetti – ohne Sauce, aber mit Butter. Der Papa kann sie besonders gut kochen – auch wenn oder gerade weil das alles ist, was er kochen kann.
Ein sechzehnjähriger Jugendlicher mit extremem Übergewicht wird vom Arzt geschickt. Er leidet seit kurzem unter Typ-I-Diabetes und muss Insulin verabreicht bekommen. Zuerst erzählt er, dass er bis in die tiefen Morgenstunden vor dem Computer sitze. Seine wahren Freunde fand er per Internet. Nudeln, Cola und Chips isst er nebenher. Sein Vater ist Alkoholiker und ausgezogen, seine Mutter fast nie zu Hause. Ernährungsberatung? Interessiert ihn eigentlich nicht. Seine Chips und Cola wird er weiterhin essen, die Nudeln auch. Etwas anderes schmeckt ihm halt nicht. Aber einfach mal reden über sich, ein Gegenüber zum Zuhören haben – das ist ihm wichtig.
Eine übergewichtige Frau berichtet, dass sie schon unzählige Male versucht hat, Gewicht zu reduzieren. Für ein paar Monate ging das immer ganz gut, dann kletterten die Pfunde höher als je zuvor. Jetzt will sie einen neuen Anlauf starten und sucht nach der ultimativen Diät. Aber bitte nicht schon wieder mit Verzicht auf alles, was sie gern isst. Sie hat keine Lust mehr, sich zu kasteien. Sie will essen, was ihr schmeckt. Wie aber kann sie mit ihrem schlechten Gewissen umgehen?
Die Ärzte haben dem Mann gesagt, er könne wieder alles essen, nur kleine Mahlzeiten eben. Doch es gelingt ihm nicht. Seit ihm der Magen entfernt wurde, ist er geplagt von Verdauungsstörungen der übelsten Art. Nun möchte er wissen, wie klein die Mahlzeiten sein müssen. Ein ganzes oder ein halbes Brötchen zum Frühstück? Er wird wieder anfangen: mit einem halben belegten Brötchen zum ersten Frühstück, der zweiten Hälfte zum zweiten Frühstück und einer kleinen Portion Kartoffeln mit Butter zum Mittagessen und weiteren miteinander abgestimmten kleinen Gerichten im Laufe des Tages. Bald wird er seine Mengen vermutlich steigern können. Die gelegte Schlinge im Darm wird die Speicherfunktionen des Magens bis zum gewissen Grad übernehmen.
Natürlich müssen in allen Beispielen noch viel mehr Faktoren wahrgenommen werden, um zu entdecken, warum jeder isst, was er isst. Wissenschaftliches „Hintergrundwissen“ ist an der Stelle gefragt, Kenntnisse, wie verschiedene Nahrungsmittel auf den Organismus wirken, beispielsweise die Tatsache, dass Schokolade die Stimmung hebt. Wird sie aus (Liebes)kummer verzehrt, kann es ja eigentlich nicht darum gehen, dem Betreffenden die Pralinen zu verbieten, sondern es muss in erster Linie ein Weg gefunden werden, wie man mit dem Kummer umgehen kann. Also kommt hinzu, die Erlebniswelt des einzelnen zu erfassen und zu verstehen, um einordnen zu können, wo die Ursache liegt, warum eigentlich Rat gesucht wird, wo die Wurzeln der vom Betroffenen empfundenen Störungen seines Essverhaltens liegen. Und immer wieder geht es darum, keine Ratschläge nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen, sondern einen Weg der Hilfe zu Selbsthilfe im miteinander zu erarbeiten. Das Allgemeinwissen über Ernährung ist gerade bei Ratsuchenden oft erstaunlich groß. Aus dieser Fülle zu sondieren und zu entscheiden, was für die eigene Ernährung von Bedeutung ist, ist allerdings kompliziert. Und angesichts überlauter Werbebotschaften kann leicht die Orientierung verloren werden, welche Nahrungsmittel denn die wirklich guten, bekömmlichen und „gesunden“ für den einzelnen sind.