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Der Mensch ist, was er is(s)t?

Im Unterschied zum Tier müssen Menschen seit Urzeiten ihre Mahlzeiten zubereiten, um sich ausgewogen ernähren zu können. Wässern, um unerwünschte Inhaltsstoffe zu entfernen, trocknen und fermentieren (Sauerkraut) zur Verlängerung der Haltbarkeit und erhitzen, um die Bekömmlichkeit zu steigern, gehören zu den ältesten Verfahren. Bis zum Ausklang des Mittelalters war es verpönt, rohes Obst und Gemüse zu essen oder Wasser zu trinken, denn darin saßen die Krankheiten. Erst mit den Fortschritten der Mikrobiologie und verbesserten hygienischen Bedingungen eroberte sich die Rohkost einen festen Platz in der Ernährung. Heute noch gilt für Reisen in tropische Länder: Peel it, boil it, cook it or forget it. Montezumas Rache droht manchem, der das nicht beachtet.

Mittlerweile steht in den Industrienationen längst nicht der Hunger als Antriebsfeder zur Erschließung neuer Nahrungsquellen im Mittelpunkt, sondern die Verwaltung des Überflusses will getätigt werden. Im Schlaraffenland satt zu werden, scheint nicht einfach zu sein. Trendforscher beschreiben jedoch längst, wo es zukünftig erst recht langgehen soll: Essen ist nicht mehr dazu da, um „nur“ zu sättigen, sondern soll den Ansprüchen der alternden Bevölkerungen nach mehr Gesundheit und damit mehr Fitness, mehr Attraktivität und mehr Leistungsfähigkeit gerecht werden. Die Nahrungsmittel der Zukunft sind demnach nicht mehr Spaghetti, Kartoffeln, Gemüse oder Bratwurst, sondern functional foods. Per Definition sind dies keine Heilmittel, sondern Nahrungsmittel, die das körperliche und seelische Wohlbefinden steigern und ernährungsbedingten Krankheiten vorbeugen. Aus Erfahrung gute Nahrungsmittel sollen ersetzt werden durch (pseudo?)wissenschaftlich für gut befundene. Natürlich spielt dabei auch der monetäre Gewinn eine entscheidende Rolle.

Mit Spaghetti und Kartoffeln, selbst mit Käse, Wurst und Fleisch oder mit Obst und Gemüse kann nach marktwirtschaftlichen Regeln bei überhöhtem Angebot kaum mehr Gewinn erzielt werden. Wohl aber könnte das gelingen mit gentechnisch veränderten Kartoffeln, deren erhöhter Vitamin-A-Gehalt Augenerkrankungen vorbeugen soll. Ebenso verspricht sich das Hamburger Unternehmen S.K. Enterprise mit der Einführung seines Functional Food Drinks LipLac ein weltweites Marktvolumen von über 700 Millionen Euro jährlich. Das Getränk „soll durch die Erhaltung eines gesunden Cholesterinspiegels das Arteriosklerose- bzw. Herz-Kreislaufrisiko positiv beeinflussen. LipLac wirkt dabei rein bionisch über natürliche Nahrungssubstanzen, die bestimmte Cholesterin senkende Vorgänge im Körper stimulieren.“ Nun werden noch finanzkräftige Investoren gesucht, die die Einführung des Produktes unterstützen. Ein in der Südschweiz ansässiges Unternehmen erfand die vitalstoffreiche Praline für den gesunden Genuss. Darin sind die als herzschützend geltenden Inhaltsstoffe des Rotweins mit jenen der Schokolade und weiteren als gesundheitsfördernd geltenden Pralinen-Inhaltsstoffen kombiniert. Schokoriegel sind besonders prädestiniert für zukünftige Functional Foods, sozusagen der „gewissensberuhigende Genießerzusatz“.

Doch das Geschäft mit der gesunden Ernährung hat seinen Preis. Wo Wissenschaft stattfindet, um Lebensmittel zu „designen“, wird Essen zum Experiment. Wo Lebensmitteldesigner mit ihrer ganzen Innovationskraft schnell neue Nahrungsmittel entwickeln, um überhaupt marktfähig zu bleiben, wird von unserer genetischen Ausstattung erwartet, sich mindestens ebenso schnell an die Anreicherung und Veränderung von Wirkstoffen in unserer täglichen Nahrung anzupassen. Oft werden die Folgen „neuartigen Essens“ erst nach Markteinführung getestet, so auch bei dem Zukunftsdrink LipLac.

Wenn Essen also zum Spagat zwischen Wissenschaft und Erfahrung wird, spricht vieles dafür, es dem dummen Bauern gleich zu tun, der nicht isst, was er nicht kennt. Schließlich baut unsere Enzymausstattung auf die Erfahrung vergangener Generationen und nicht auf die gesunden Produkte von heute, die morgen schon wieder verworfen werden können, weil Forscher ihr krankmachendes Potenzial doch noch entdeckt haben. Im Prinzip behalten die derzeit in die Kritik geratenen Ernährungsregeln ihre Gültigkeit: Eine Ernährung mit guten Grundnahrungsmitteln wie Brot, Nudeln, Kartoffeln, Gemüse, Fleisch, Obst, Milch, Eiern, Käse und einem leckeren Dessert für Schleckermäuler hat schon Viele gesund alt werden lassen. Wem was am besten bekommt, kann jedoch jeder nur für sich selbst entscheiden.